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Monthly Archives

August 2022

TIP-Report bewertet Deutschland als TIER 1-Land

By Forschung

Der TIP-Report

Am 19. Juli 2022 veröffentlichte das Büro zur Überwachung und Bekämpfung von Menschenhandel im US-Außenministerium den jährlich erscheinenden Trafficking in Persons (TIP) Report. Der 634-seitige Bericht analysiert Entwicklungen im Bereich des Menschenhandels. Er bewertet auch, inwiefern Länder die Mindeststandards des US-amerikanischen Gesetzes zum Schutz der Opfer des Menschenhandels erfüllen. Diese stimmen im Wesentlichen mit den Vorgaben des sogenannten „Palermo-Protokolls“ der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2000 überein.

Der TIP-Report teilt die 188 Länder, die für den vorliegenden Bericht untersucht wurden, in vier Kategorien ein:

TIER (Stufe) 1: Länder, deren Regierungen die Mindeststandards für die Beseitigung des Menschenhandels vollständig erfüllen.

TIER (Stufe) 2: Länder, deren Regierungen die Mindeststandards nicht vollständig erfüllen, die aber erhebliche Anstrengungen unternehmen, um diese Standards zu erfüllen.

TIER (Stufe) 2 Watchlist (Überwachungsliste): Länder wie TIER 2, deren geschätzte Zahl der Opfer schwerwiegender Formen des Menschenhandels jedoch sehr hoch ist oder deutlich ansteigt und die keine angemessenen konkreten Maßnahmen ergreifen. Oder Länder, wo es an Nachweisen dafür fehlt, dass die Anstrengungen zur Bekämpfung schwerer Formen des Menschenhandels im Vergleich zum Vorjahr zugenommen haben.

TIER (Stufe) 3: Länder, deren Regierungen die Mindeststandards für die Beseitigung des Menschenhandels nicht vollständig erfüllen und auch keine nennenswerten Anstrengungen unternehmen, dies zu tun.

Besser als in den Vorjahren

Nach drei Jahren in Folge auf Stufe 2 wurde Deutschland nun erstmals wieder auf Stufe 1 gelistet. Angesichts der Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Kapazitäten zur Bekämpfung von Menschenhandel habe die deutsche Regierung im Vergleich zum Vorjahreszeitraum wichtige Erfolge erzielt. Zu diesen Erfolgen gehörten die strafrechtliche Verfolgung und Verurteilung von mehr Menschenhändlerinnen und Menschenhändlern. Auch habe es im Vergleich zum Vorjahr verstärkte Anstrengungen der Strafverfolgungsbehörden zur Bekämpfung von Menschenhandel gegeben. Seit der Eröffnung eines weiteren Beratungszentrums im Jahr 2021 arbeiteten in allen 16 Bundesländern auf Menschenhandel spezialisierte NGOs. 2021 habe ein Bundesland bei der Staatsanwaltschaft eine neue Spezialabteilung zur Bekämpfung von Menschenhandel eingerichtet. Ein weiteres Bundesland eröffnete zwei neue Unterkünfte, die männlichen Opfern Zuflucht bieten sollen. Die Mittel für die Betreuung von Opfern seien aufgestockt worden und gemeinsam mit NGOs sei ein ministerienübergreifender Rahmen für Menschenhandel zur Ausbeutung der Arbeitskraft erstellt worden.

Weiterer Verbesserungsbedarf

Dennoch identifiziert der TIP-Report auch noch Bereiche, die in Deutschland verbessert werden müssen: So sei das Angebot an Unterkünften, die männlichen Opfern Schutz böten, insgesamt nach wie vor unzureichend. Auch die Finanzierung von Unterkünften und NGOs zur Betreuung und Unterstützung von Opfern sei weiterhin unzureichend. Im Bereich der Strafverfolgung würden weiterhin zu milde Strafen verhängt und die Regierung habe weiterhin keine bundesweite Richtlinie zur Identifizierung und Weiterverweisung von Opfern aller Arten von Menschenhandel (sprich: einen funktionierenden nationalen Verweisungsmechanismus, NRM) eingesetzt. Viel zu selten käme es zu Entschädigungszahlungen an Opfer des Menschenhandels.

Angesichts des weiterhin bestehenden Verbesserungsbedarfs, spricht der Bericht eine Reihe von Empfehlungen aus. Diese können in dem fünfseitigen Länderbericht zu Deutschland nachgelesen werden, den die US-amerikanischen Botschaft in Berlin ins Deutsche übersetzt und HIER auf ihrer Website zur Verfügung gestellt hat.

Der gesamte TIP-Report auf Englisch kann HIER heruntergeladen werden.

HIER geht es außerdem zu unserem Kurzbericht zum TIP-Report von 2019.

Spanien auf dem Weg zum Gleichstellungsmodell

By Prostitutionspolitik

Der Einsatz der Frauenbewegung

Seit Jahrzehnten ist die spanische Frauenbewegung bereits aktiv im Kampf gegen die Prostitution. 2019 legten zahlreiche Frauenorganisationen des Landes gemeinsam einen Entwurf für ein Gesetz zur Abschaffung der Prostitution vor. Dies orientierte sich an den Grundlagen des Gleichstellungsmodells (Nordischen Modells), wie es auch in anderen Ländern, allen voran Schweden, bereits implementiert wurde:

  • Kriminalisierung der Nachfrage nach Prostitution (Sexkaufverbot bzw. Freierbestrafung)
  • die strafrechtliche Verfolgung von Zuhältern
  • das Angebot von Lebensalternativen für Frauen in der Prostitution (Ausstiegshilfen).

Etappensieg im Parlament

Am 7. April 2022 errangen sie schließlich einen bedeutenden Etappensieg: Das spanische Parlament stimmt mit Zweidrittel-Mehrheit dafür, ein Gesetz zur Freierbestrafung auf den Weg zu bringen. Eingebracht hatte den Gesetzentwurf die sozialistische Partei von Ministerpräsident Pedro Sánchez, PSOE. Adriana Lastra, die stellvertretende Generalsekretärin der PSOE und zuständig für die Verteidigung des Gesetzentwurfs, wies in ihrer Rede darauf hin, dass es nach Angaben des Innenministeriums 45.000 sexuell ausgebeutete Frauen in Spanien gebe. Sie rief zu einem Konsens auf, um der Straffreiheit der Zuhälterei ein Ende zu setzen: „In einer Demokratie werden Frauen weder gekauft noch verkauft“. Weiters erinnerte sie daran, dass sexuelle Ausbeutung eine „Verletzung der Menschenrechte“ sei. Ihre Partei sei davon überzeugt, „dass diejenigen, die aus der Not heraus entscheiden, nicht frei entscheiden“.

Als nächstes geht der Gesetzesentwurf an den Senat, der Änderungsvorschläge machen oder das Gesetz ganz ablehnen kann. Dann geht es zurück in das Abgeordnetenhaus zur weiteren Diskussion.

Druck der Zivilgesellschaft bleibt stark

Währenddessen bleibt der Druck aus der Zivilgesellschaft stark: Im Mai 2022 demonstrierten zuletzt über 7.000 Personen und über 150 Frauenorganisationen aus ganz Spanien gemeinsam in Madrid für das Gesetz. Überall finden Konferenzen, Kurse und Veranstaltungen statt, mit denen AbolitionistInnen die Gesellschaft sensibilisieren wollen. Doch auch die BefürworterInnen der Prostitution machen mobil und gehen als „Plattform der von der Abschaffung der Prostitution betroffenen Menschen“ (Plataforma de Personas Afectadas por la Abolición de la Prostitución) auf die Straße.

Käme das Gesetz durch, wäre Spanien das siebte Land in Europa mit dem Gleichstellungsmodell (Nordischen Modell) (nach Frankreich, Schweden, Norwegen, Island, Irland und Nordirland).

Hier geht es zum Bericht „EU-Studie empfiehlt Mitgliedsstaaten die Bestrafung von Sexkäufern“

Quellen:

Emma (15.06.2022): Freierbestrafung in Spanien?, online: https://www.emma.de/artikel/spanien-verbietet-prostitution-339553 [accessed: 10.08.2022]

Publico (08.06.2022): Congreso aprueba debatir la ley del PSOE contra la prostitución sin el apoyo de los aliados del Gobierno, online: https://www.publico.es/politica/congreso-aprueba-debatir-ley-prostitucion-psoe-apoyo-aliados-gobierno.html [accessed: 10.08.2022]

The Objective (07.06.2022): Los afectados por la abolición de la prostitución preparan un ‚verano caliente‘ contra el Gobierno, online: https://theobjective.com/espana/2022-07-06/prostitucion-verano-caliente-gobierno/ [accessed: 10.08.2022]

Foto von Fernando Sánchez (Europa Press)

Prostitution ist stets unzumutbar

By Prostitutionspolitik

Ein Job wie jeder andere?

Ist Prostitution oder „Sexarbeit“ ein Job wie jeder andere? Wenn es nach dem Berliner Sozialgericht geht, ist sie es nicht.

So verkündete das Sozialgericht Berlin in einem Urteil vom 19. Juli 2022, dass eine Person, die in Deutschland selbstständig in der Prostitution tätig gewesen ist, diese Arbeit jederzeit aufgeben kann, da sie als unzumutbar (gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB II) gewertet werden muss.

Dass diese Frage erst mittels eines Gerichts beurteilt werden musste, mag so manche/n, dem/der die Umstände von Menschen in der Prostitution bekannt sind, verwundern. Wenn man sich jedoch vor Augen führt, wie Prostitution nicht nur verbal (als „Sexarbeit“), sondern auch (arbeits-)rechtlich in unserer Gesellschaft normalisiert wird, wird klar, warum diese Frage eben nicht so eindeutig zu beantworten war.

„Für eine Arbeitssuche dürfen sich EU-Bürger bis zu drei Monate in jedem anderen EU-Land aufhalten. Dabei ist in Deutschland der Anspruch auf Hartz-IV-Leistung als Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen. Wenn eine längere Tätigkeit unverschuldet zu Ende geht, besteht aber weiterhin ein Aufenthaltsrecht und EU-Ausländer haben dann auch Anspruch auf Hartz IV-Leistungen“, erklärt das Juraforum hierzu.

Juraforum, 2022

Der aktuelle Fall

Im aktuellen Fall wollte eine Bulgarin, die zwischen 2014 und 2019 in Deutschland selbständig in der Prostitution tätig war und Steuern gezahlt hatte, von diesem Recht Gebrauch machen. Die 29-Jährige hatte bereits einen 11-jährigen Sohn. Nun war sie zum zweiten Mal schwanger und konnte die Tätigkeit der Prostitution ihren eigenen Angaben zufolge nicht länger ertragen. Sie hörte also mit der Prostitution auf und suchte um Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs, welches die Grundsicherung für Arbeitssuchende, „Hartz IV „, regelt) an.

Das Jobcenter Berlin Lichtenberg gewährte den Klägern auch zunächst für die Zeit bis einschließlich September 2020 diese Leistungen. Mit Oktober 2020 wollte es diese jedoch plötzlich nicht länger gewähren. Die Begründung lautete, die Bulgarin habe ihre Arbeitslosigkeit schließlich selbst verschuldet, als sie ihre selbständige Tätigkeit „bewusst und freiwillig“ beendet hatte.

Entscheidung des Gerichts

Zur Diskussion stand also die Frage, ob Prostitution als legale selbstständige Tätigkeit in Deutschland wie jede andere Arbeit zu bewerten ist.

Dies sah das Berliner Sozialgericht zum Glück anders: Es stellte fest, dass die Beendigung der Tätigkeit „vielmehr auf den objektiv unzumutbaren Umständen der prekären Armutsprostitution, die die Klägerin in den Jahren 2017 bis Juni 2019 ausgeübt hat“ beruhten. Es sei offensichtlich, dass es objektiv keinem Menschen zugemutet werden kann, sich unter den von der Klägerin […] geschilderten Bedingungen des Berliner Straßenstrichs zu prostituieren.“ Grundsätzlich sei die „willentliche Beendigung der Prostitution“ nicht als „freiwillige Aufgabe der Erwerbstätigkeit“ im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes/EU zu sehen, die einen Fortfall des Aufenthaltsrechts und damit der Sozialleistungsberechtigung nach sich zöge, erklärte das Gericht entgegen der Argumentation des Jobcenters.

Weiters verdeutlichte das Gericht, dass eine Tätigkeit in der Prostitution nicht mit einer gewöhnlichen Erwerbstätigkeit vergleichbar sei. Vielmehr berühre sie die Intimsphäre und damit die Menschenwürde der betroffenen Personen in besonders starker Weise. Daher dürfe der Staat aufgrund seiner Schutzpflicht für die Menschenwürde zum Einen keine Arbeitsvermittlung in die Prostitution vornehmen und Hilfsbedürftige zum Anderen nicht dazu zwingen, sexuelle Dienstleistungen zu erbringen, um eine Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit zu erzielen. Dies gelte unabhängig davon, dass die Bulgarin die Arbeit zuvor ausgeübt hat: „Eine objektiv unzumutbare Arbeit, deren Ausübung der Staat von niemandem verlangen kann, wird nicht deshalb zumutbar, weil die Person die Arbeit zeitweise ertragen hat.“

Ein Schritt hin zum Nordischen Modell?

„Ist dieses Urteil damit geeignet, ein Sexkaufverbot nach dem sogenannten nordischen Modell zu begründen?“, fragt die taz. Zumindest greift es den grundsätzlichen Gedanken des Gleichstellungsmodells (Nordischen Modells) auf: Prostitution ist eben nicht zumutbar und kein „Job wie jeder andere“. Vielmehr brauchen Menschen Ausstiegshilfen, wenn sie es nicht länger ertragen, und keinen Staat, der ihnen nahelegt, sie müssten in der Prostitution verbleiben, egal unter welchen Umständen.

Dank dieses wichtigen Urteils des Berliner Sozialgerichtes blieb das Aufenthaltsrecht der Bulgarin bestehen und ihr und ihren Kindern wurden Hartz-IV-Leistungen zugesprochen.

HIER geht es zum GGMH Positionspapier zum Gleichstellungsmodell bzw. „Nordischen Modell“

Quellen:

Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU – FreizügG/EU) § 2 Recht auf Einreise und Aufenthalt, online: https://www.gesetze-im-internet.de/freiz_gg_eu_2004/__2.html

Juraforum (20.07.2022): Ausstieg aus der Prostitution vom Sozialgericht Berlin erleichtert, online: https://www.juraforum.de/news/ausstieg-aus-der-prostitution-vom-sozialgericht-berlin-erleichtert_258216

SG Berlin (2022): Beschluss S 134 AS 8396/20 vom 15.06.2022, online: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/171606

taz (30.07.2022): Kein Job wie jeder andere, online: https://taz.de/Prostitution-vor-Gericht/!5868438/

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