Fachleute und Betroffene bemängeln methodische Mängel und realitätsferne Ergebnisse der Evaluationsstudie zum Prostituiertenschutzgesetz.
Pressemeldung vom 30.07.2025
Rund einen Monat nach Vorstellung der offiziellen Evaluation des Prostituiertenschutzgesetzes (ProstSchG) durch das Bundesfamilienministerium haben Expert/innen und Betroffene auf einer bundesweiten Online-Konferenz deutliche Kritik an dem Bericht geübt. In der Veranstaltung mit dem Titel „Das ganze Feld im Blick?“ diskutierten am 28. Juli fast 200 Teilnehmende die Studienergebnisse. Die Konferenz, zu der das Bündnis gegen Menschenhandel und IZwangs-I Prostituion Ludwigsburg gemeinsam mit dem Bündnis Gemeinsam gegen Menschenhandel e.V. und der Bundeszentrale für Politische Bildung Baden Württemberg eingeladen hatte, diente als Plattform für Austausch zwischen Wissenschaft, Praxis und Betroffenen. Der Tenor: Die vorgelegte Evaluation bildet nun möglicherweise die Basis für weitere politische Entscheidungen, obwohl sie gravierende methodische Schwächen aufweist und ein Zerrbild der Realität zeichnet. „Die Evaluation hat nicht die nötigen Erkenntnisse gebracht, um die einzige Grundlage für weitere politische Diskussionen zu sein“, betonte die Erziehungswissenschaftlerin Marie Kaltenbach in ihrem Einführungsvortrag.
Dr. Jakob Drobnik, Sozialethiker und Jurist, analysierte in seinem Beitrag die Methodologie des fast 900-seitigen Evaluationsberichts und stellte eine grundlegende Verzerrung fest. Er monierte, der Bericht sei von Beginn an „explizit voreingenommen“und suche „von Anfang an eine Bestätigung“ für die Wirkung des ProstSchG, statt ergebnisoffen zu untersuchen. Als Beispiel verwies Drobnik auf suggestive Frageformulierungen im Prostituierten-Survey. Eine der Fragen lautete etwa: „Möchten Sie gesund bleiben?“, worauf natürlich nahezu 100 % der Befragten mit Ja antworteten. Dennoch leiteten die Studienautoren daraus ein „hohes Gesundheitsbewusstsein“ der Prostituierten ab. Solche trivialen Items und daraus gezogene Schlussfolgerungen bezeichnete Drobnik als irreführend. Sie belegten aus seiner Sicht die Voreingenommenheit der Studienmacher, die eher eine Rechtfertigung des geltenden Systems geliefert hätten als eine unbefangene Evaluation. Auch inhaltlich, so Drobnik, wirke der Bericht streckenweise wie eine Verteidigungsschrift des ProstSchG. Die Autoren vermittelten Prostitution als „ganz normale […] Tätigkeit“ und schlugen unter anderem vor, Minderjährige in der Prostitution zu beraten und hochschwangeren Frauen die Sexarbeit zu erleichtern. Solche Empfehlungen stießen bei den Konferenzteilnehmerinnen auf scharfe Kritik. „Es ist keine Evaluation, sondern die Verteidigung dessen, was nicht zu verteidigen ist“, resümierte Drobnik.
Mangelnde Realitätsnähe, Kritik von Betroffenen: Eine weitere wichtige Stimmen der Konferenz war Marlene, Aktivistin und Überlebende aus der Prostitution und Mitglied des Betroffenen-Netzwerks Ella, in dem sich Frauen mit eigener Prostitutionserfahrung zusammengeschlossen haben. Sie bezeichnete zentrale Befunde der Studie als „völlig realitätsfern“, etwa die Angaben, wonach 44 % der Sexarbeiterinnen die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, 26–27 % einen Hochschulabschluss haben und 57 % der Befragten der Prostitution lediglich nebenberuflich nachgehen. „Diese Zahlen decken sich überhaupt nicht mit meinen Erfahrungen“, kritisierte Marlene. Überlebende wie sie seien in der Untersuchung gar nicht erst befragt worden, ein Versäumnis, das sie als „gravierenden Mangel“ bezeichnete. Und sie erklärte eindrücklich, dass das Ausmaß dessen, was in der Prostitution geschieht, für Betroffene oft erst Jahre später greifbar wird, in der aktiven Zeit werde vieles ausgeblendet, um das Überleben zu sichern.
Auch Fachkräfte aus Beratungsstellen zweifelten die Aussagekraft der Online-Befragung an. So berichtete eine Sozialarbeiterin aus Stuttgart, die im Rahmen des ProstSchG gesundheitliche Beratungen durchführt, schon während der Erhebungsphase an das Forschungsteam, dass insbesondere viele osteuropäische Frauen den umfangreichen Fragebogen trotz Hilfe kaum ausfüllen konnten. Aufgrund von Sprachbarrieren und dem Zeitaufwand von teils über 40 Minuten sei es nicht gelungen mit diesen Frauen den Fragebogen vollständig durchzugehen. Dadurch blieben ausgerechnet die vulnerabelsten Personengruppen in der Studie unterrepräsentiert. „So werden in Ihrer Evaluation nur Personen sichtbar und berücksichtigt, die Zugang dazu haben und in der Lage sind, diese umfassenden Fragen zu beantworten“, schrieb sie an das KFN, das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen, das die Evaluation durchführte. Die Lebensrealität vieler Migrantinnen in der Prostitution, die die Beratungsstellen häufig betreuen, spiegle sich in den Ergebnissen kaum wider, so der Tenor der Praxisexpertinnen Adele Mieschner vom Verein Sisters und Maria Jordan von SOLWODI e.V.
Frank Heinrich, ehemaliges Mitglied des deutschen Bundestages und Vorsitzender des Bündnisses Gemeinsam gegen Menschenhandel e.V. begrüßte neben aller Kritik die Ankündigung des Bundesfamilienministeriums, dass nun eine unabhängige Expert/nnenkommission einberufen werden soll. Hier sollten deutlich mehr Quellen als nur die Evaluation einbezogen werden, meint Heinrich. Er sei mit seinem Verein weiterhin der Überzeugung, dass in Deutschland ein komplettes Umdenken und eine Hinwendung zum Nordischen Modell der Prostitutionspolitik erforderlich sei.
Die Sozialwissenschaftlerin, Buchautorin und Bloggerin Manuela Schon aus Wiesbaden kritisiert ebenso, dass die Evaluation nicht überzeugend gelungen ist. Zugleich merkt sie an, dass Kritik allein wenig weiterführt, und stellt die entscheidende Frage: Wie hätte eine solche Studie besser angelegt werden können? Als gelungenes Beispiel verweist sie auf eine aktuelle schwedische Untersuchung zu OnlyFans, der es weitaus besser gelingt, das gesamte Feld differenziert in den Blick zu nehmen.
Insgesamt waren sich Wissenschaftler/innen, Praktiker/innen und Betroffene damit einig: Die Ergebnisse der ProstSchG-Evaluation dürfen nicht unbesehen als Entscheidungsgrundlage dienen, solange wesentliche Perspektiven, insbesondere die von Aussteigerinnen, unberücksichtigt bleiben und die Realität des Prostitutionsmilieus verzerrt wiedergegeben wird.
HIER findet sich die komplette Evaluation sowie die zwei Gutachten zum Download.
HIER gibt es unsere Pressemeldung als PDF.

